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„Es lässt sich eben doch etwas verändern!“

Vor einem Jahr trat mit den „Freien Wächtern“ erstmals die neue lokalpolitische Bewegung auf den Plan. Zwölf Monate später besetzen sie in Wächtersbach Schlüsselpositionen und haben mit CDU, Grünen und Linken Historisches geschaffen. Eine Zwischenbilanz.

„Es begann wie so viele Erfolgsgeschichten eigentlich ganz banal mit einem guten Gespräch bei einem Glas Bier “, erzählt Dr. Eberhard Wetzel. Er ist der Gründungsvater der Freien Wächter. „Bei einem Besuch im WCV-Casino traf ich auf Günter Höhn und plauderte mit ihm über die politische Situation in Wächtersbach. Ausschlaggebend für unser Engagement war die wachsende Unzufriedenheit über mangelnde Transparenz und Fehlentscheidungen bei wesentlichen Projekten in unserer Stadt.“ Als Vorsitzender des Fördervereins Schloss und Park war er zwar überglücklich, dass nach Jahren der Stagnation die Stadt mit dem Kauf des Schlosses und des Brauereigeländes eine einmalige Chance ergriff. „Was vor fünf Jahren mit einer großen Bürgerbeteiligung gut begann wurde jedoch durch zunehmende Intransparenz und merkwürdige Entscheidungen für mich zweifelhafter. Gut gemeinte Ratschläge wurden als Systemkritik verunglimpft und man gewann den Eindruck, dass das Projekt scheuklappenartig mit der absoluten Mehrheit durchgezogen werden sollte.“

Seine Vorstandskollegin im Förderverein, Monika Heil, stimmt dem zu: „Im Grunde war es eine Entwicklung, die für mich mit der Sommerbühne im Schlosspark begonnen hatte. In einer Art Nacht und Nebel Aktion sollte Wächtersbach ganz schnell dieses große Veranstaltungsareal vom Kreis geschenkt bekommen, ohne dass die Bürger befragt wurden.“ Die Bühne hätte den Charakter des Schlossparks grundlegend verändert und die Unterhaltung den Stadthaushalt mit einem hohen Betrag langfristig belastet. Heil weiter: „Wir organisierten damals den politischen Widerstand und mit vereinten Kräften konnte das Vorhaben noch abgefangen werden.“ Die Sommerbühne wurde vom Kreis schließlich verworfen, da auch die anderen Gemeinden kein Interesse hatten.

Zurück zum Initialgespräch im WCV-Casino: Bei dem ehemaligen Lokalpolitiker Höhn traf Wetzel auf ein offenes Ohr. Er versprach, das Thema mit in seine Partei zu nehmen. Beide vereinbarten ein Treffen zwischen der noch namenlosen Bürgerbewegung und dem damaligen Ortsverband der FDP.  Schnell fanden beide Seiten Gemeinsamkeiten: Die politische Diskussionskultur sollte versachlicht und Parteigrenzen überwunden werden, da diese auf lokaler Ebene mehr trennen als vereinen. Günter Höhn betont: „Wichtig war uns, nicht als Fortsetzung einer Partei begriffen zu werden, sondern eine neue Bewegung für Wächtersbach zu schaffen, um wirklich etwas zu verändern.“ Es folgte eine erste Pressemitteilung mit dem Aufruf an Interessierte, sich anzuschließen. Auch der erste Name war geboren: „Freie Wächterliste“.

Nach dem Schritt an die Öffentlichkeit erhielten die Initiatoren viel positives Feedback und Unterstützung. Unter Corona-Bedingungen folgte das erste Treffen mit weiteren Interessenten. Insgesamt 15 Personen fanden den Weg an den Aufenauer Sportplatz. Darunter auch Christian Klas und Thorsten Gast von den „Freien Wählern Brachttal“. Sie zeigten den Anwesenden den vor ihnen liegenden Weg auf: „Die Worte Ghandis bringen es gut auf den Punkt: Zuerst ignorieren sie Dich, dann lachen sie über Dich, dann bekämpfen sie Dich und dann gewinnst Du.“

Der „Wächterzug“ war zu diesem Zeitpunkt bereits am Rollen: Am 24. Juni gründete sich der nichteingetragene Verein „Freie Wächter“ mit elf Mitgliedern. Die Moderatorin des Abends, Anja Piston-Euler, gab das Ziel aus: „Wir wollen Politik machen, die ansteckt und nicht abschreckt.“ Inhaltich folgte alsbald die erste Idee: Eine Waldkita sollte ins Alte Forsthaus. Gleichzeitig stellte sich die Bewegung in vier Einzelveranstaltungen den Wächtersbacher Bürgern vor. Die Mitgliederzahl wuchs innerhalb eines Jahres auf über 30. Organisatorisch teilt sich der Verein in einen sechsköpfigen Vorstand sowie fünf politische Arbeitsgruppen zu den Themen Umwelt, Familie, Stadtumbau, Finanzen und Nahmobilität.

Erster Gegenwind und willkommen in der Normalität

„Schön war bis dahin, dass wir von den etablierten Parteien zumindest ignoriert oder sogar positiv aufgenommen wurden.“, blickt Clemens Pochop zurück. Er ist eines der Vorstandsmitglieder. Das „höfliche Desinteresse“ änderte sich im September, als die Wächter öffentlich fragten: „Braucht es noch die Messe Wächtersbach?“ Pochop erzählt: „Wir haben eine breite Diskussion in den sozialen Medien, der Presse und auch auf der Straße angestoßen. Selbst Radio Primavera aus Aschaffenburg wollte ein Interview und der Landrat Thorsten Stolz schaltete sich ebenfalls ein.“ Das Fazit der Wächter aus Online-Umfragen und vielen Gesprächen: „Über die Hälfte aller Diskussionsteilnehmer sind für die Messe in veränderter Form. Die zweitgrößte Gruppe spricht sich gegen die Messe und für eine alternative Nutzung des Messeplatzes aus. Die kleinste Gruppe will die Messe in der derzeitigen Form erhalten.“ Die Diskussion begleitet die Wächter bis heute. In der kommenden Stadtverordnetenversammlung, am 27. Mai um 20 Uhr in der Heinrich-Heldmann-Halle, steht der Tagesordnungspunkt „Vorschlag von drei Personen für den Aufsichtsrat der Messe“ auf der Tagesordnung. Dazu Pochop: „Nach derzeitigem Stand schicken wir mit Günter Höhn einen echten Messe-Fan ins Rennen, der mit seinem Unternehmen seit Jahrzehnten weltweit auf unterschiedlichsten Industriemessen präsent ist. Fakt ist aber auch: Die Messe braucht dringend Veränderungen, um attraktiv zu bleiben, beziehungsweise nach Corona wieder attraktiver zu werden.“

Nach der großen Messediskussion begann die Alltagspolitik: Für die bevorstehende Kommunalwahl galt es, Listen aufzustellen. Den Wächtern gelang mit 32 Kandidatinnen und Kandidaten die zweitlängste Liste der Wahl. Bei den Ortsbeiratswahlen trat die Bürgervereinigung in vier Stadtteilen an. Der damals Fraktionsvorsitzende in spe, Frank Hilliger, erklärte: „Unsere Stärke ist die Mischung aus Jung und Alt, Mann und Frau sowie Stadt und Stadtteilen.“ Als jüngster Wächter trat Lars Grillwitzer an und wurde schließlich auch in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. Der 19-jährige erklärt seine Motivation für Lokalpolitik so: „Mich hat überzeugt, dass die richtigen Themen aufgegriffen wurden. Aus meiner Sicht sind das besonders die Radwege und die Stadtplanung. Ich bin heute noch immer verblüfft, wie breit gefächert die Themenvielfalt ist und was jeder im letzten Jahr an Themen mit in die Gruppe getragen hat.“

Sensation bei der Kommunalwahl

Der folgende Wahlkampf entwickelte sich in den Augen vieler Beobachter zu einem Schlagabtausch mit der SPD. Dazu Simone Bienossek: „Unser persönliches Highlight kam um Fasching rum. Uns wurde unterstellt, wir seien aufgrund einiger Mitglieder ein FDP-U-Boot. Weil wir den Vorwurf nicht ernst nehmen konnten, schrieb unsere Kreativ-Abteilung ein Wächter-Lied auf die Melodie von Yellow-Submarine.“ Das Video verbreitete sich in den sozialen Netzwerken rasant und das Ergebnis der Kommunalwahl war eine Sensation: Rund jede vierte abgegebene Stimme entfiel auf die Freien Wächter. Damit wurde der Neuling auf Anhieb mit zehn Stadtverordneten zweitstärkste Kraft im Stadtparlament. Die absolute Mehrheit der SPD wurde nach Jahrzehnten abgelöst. Dazu Bienossek: „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann die SPD in Wächtersbach nicht die absolute Mehrheit hatte.“

Damit hätten sich die Wächter zurücklehnen und abwarten können, was passiert. Immerhin waren die Mehrheitsverhältnisse geändert und es gab die Chance für ein neues Miteinander. Tatsächlich trieben die neu gewählten Stadtverordneten sowie Mitglieder den designierten Fraktionsvorsitzenden Frank Hilliger an, dass die Wächter auch personelle Verantwortung übernehmen. Dazu Hilliger: „Jan Volkmann meldete sich beispielsweise freiwillig als Kandidat zum Stadtverordnetenvorsteher. Andere wollten in die Ausschüsse und den Magistrat. So setzten wir die Entwicklung ohne innezuhalten fort.“ Der inzwischen zum Stadtverordnetenvorsteher gewählte Volkmann sagt: „Was Frank gemeinsam mit CDU, Grünen und Linken innerhalb von vier Wochen auf die Beine gestellt hat, hat mich schwer beeindruckt. Ich will nun Stadtverordnetenvorsteher für alle sein und zum Abbau von Parteigrenzen auf kommunaler Ebene beitragen.“

Es bleibt spannend bei den Wächtern

Der Blick in die Zukunft ist spannend. Dazu Hilliger: „Derzeit überwiegt noch die Euphorie. Ich erwarte aber einen Hänger im zweiten oder dritten Jahr, wenn die Dinge nicht so schnell gehen, wie man es sich wünscht. Wir müssen inhaltlich viel lernen.“ Auch im Verein „Freie Wächter“ sieht er Handlungsbedarf: „Durch den Wahlerfolg sind jetzt viele Mitglieder in der Fraktion und können sich nicht mehr so stark in den Arbeitsgruppen einbringen. Wir prüfen deshalb zeitnah ein Mitgliederwerbeprogramm, um nach Corona neue Mitstreiter zu gewinnen.“ Die Mitgliedschaft lohne sich, denn die Arbeitsgruppen wirkten sich direkt auf die Politik der Fraktion aus. „Es lässt sich eben doch etwas verändern, wenn man den Mut hat, einen Schritt nach vorne zu machen und aus der Masse herauszutreten.“, appelliert Hilliger an potenzielle Interessenten und lädt zur Kontaktaufnahme unter freie.waechter@gmail.com ein. Dr. Eberhard Wetzel bilanziert nach einem Jahr indessen: „Vor einigen Monaten wurde ich noch als einsamer Systemkritiker bezeichnet. Es ist einfach wundervoll zu sehen, wie viele Menschen es in Wächtersbach gibt, die sich als konstruktive Ideengeber begreifen. Diesen Weg möchten wir konsequent weitergehen.“